Patric Seibert ist einer der Originale im Ring von Frank Castorf. Er ist gleichzeitig Schauspieler, Regieassistent und Dramaturg. Seit 2013 ist er die treibende Kraft der Vorbereitungszeit sowie der Proben, aber gleichzeitig taucht er laufend auf der Bühne auf – und das von Rheingold bis Götterdämmerung. Eine stumme, oft lächerliche (aber nicht immer) Figur in dieser gigantischen Geschichte.
Wir haben ein langes Gespräch geführt, haben über dieses und jenes gesprochen, sehr offen, sehr herzlich, sehr empfindsam auch. Er hat uns nicht nur aufgeklärt über die Abschnitte/Etappen während der Vorbereitung dieser außergewöhnlichen Vorstellung, sondern auch über die Stimmung, die Persönlichkeiten und hat uns auch unerwartete Aspekte dieser Arbeit offenbart.
Dies ist mit Genuss zu lesen, um den Castorf-Ring besser zu verstehen, natürlich, aber auch um sich ein besseres Bild davon zu machen was so eine Produktion in puncto Zeit und Organisation benötigt, aber auch in puncto Liebe und Leidenschaft.
Können Sie uns von Ihrer Ausbildung und Karriere erzählen?
Dieses Wort „Karriere“ mag ich nicht. Ich bin in der DDR groß geworden, habe dort die Schule besucht und habe zunächst eine Ausbildung gemacht, die sich Berufsausbildung mit Abitur nannte. Außerdem habe ich neben dem Abitur eine Kochausbildung gemacht, ich bin also auch Koch. Dann kam die Wende (1990) und da meine famiIiäre Situation problematisch war habe ich mich entschlossen, nach Russland zu gehen um meine Studien fortzusetzen. Meine Mutter war dort und ich habe mich an den drei großen Universitäten in Russland beworben: Sankt Petersburg (das noch Leningrad hieß), Moskau und Novosibirsk. In Novosibirsk wurde ich sofort genommen und bekam auch ein Stipendium, das sehr attraktiv war, weil ich damit eine Wohnung bezahlen konnte. Und dann habe ich mich entschlossen in Novosibirsk Theaterwissenschaft mit Opernregie zu studieren; das klingt sehr ungewöhnlich aber Novosibirsk ist als Opernstadt in Russland sehr bekannt, war lange Zeit das größte Opernhaus Asiens, von Stalin in den vierziger Jahren während des Krieges gebaut. Dort habe ich dann bis zum Diplom studiert. Dann kam ich nach der Ausbildung zurück und versuchte irgendwie in Berlin Fuß zu fassen, an den Berliner Opernhäusern unterzukommen, nur - das funktionierte nicht. Aber ich kannte noch einige Leute von früher am Berliner Ensemble und so bin ich ein Jahr dortgeblieben, aber dann kam dort ein Wechsel und so bin ich an die Volksbühne gegangen. Ich kannte schon lange vorher das, was Castorf machte, ich hatte viel Zeit in den neunziger Jahren an der Volksbühne verbracht, es war das Theater was ich machen wollte, ich war immer fasziniert davon. Ich war auch im Berliner Ensemble, wo Heiner Müller damals eine hervorragende Inszenierung von Arturo Ui mit Martin Wuttke gemacht hat, aber ich war am meistens an der Volksbühne. Das war mehr als ein Theater, es war eher eine Art Lebensform, man konnte dort nicht nur ins Theater gehen, sondern man ging in die Kantine etwas essen, man ging in den roten Salon und man machte dort Party. Es war ein umfassender Ort wo man seine Zeit verbringen konnte.
Dann wollte ich etwas mehr in Richtung Musiktheater machen und habe mich außerhalb Berlins beworben, bin Regieassistent geworden in verschiedenen kleineren und mittleren Städten wie Oldenburg oder Coburg. Auch in St. Petersburg habe ich mit Valery Gergiev und Gottfried Pilz am ersten Ring, der nach dem Krieg in Russland inszeniert wurde, mitgearbeitet wo die Arbeit mit Gergiev als Dirigenten sehr interessant war. Dann bin ich fest an die Oper Köln engagiert worden, wo ich neben Michael Hampe gearbeitet habe, was interessant war, weil er viele internationale Produktionen machte. Mit Hampe war ich in Süd-Amerika, in Athen, in Oslo aber ich habe auch mit Vera Nemirova und Philipp Himmelmann (Don Giovanni in Perm mit Currentzis) gearbeitet. Ich kam zurück um mit Frank Castorf zu arbeiten in dem Moment wo ich ein Angebot als Chefdramaturg aus Meiningen bekam. Dort bin ich dreieinhalb Jahre geblieben und habe viele Inszenierungen gemacht sowie auch diverse Rollen auf der Bühne interpretiert.
Unter welchen Umständen wurde Ihre Teilnahme an dem Ring in Bayreuth beschlossen?
Ganz zu Beginn als dieser Auftrag kam, habe ich immer wieder geschaut, was Castorf machte. Ich war zwar in Kontakt mit ihm, aber es gab keinen professionellen Kontakt zwischen uns. Ich las nur in der Zeitung, daß er diesen Ring machen würde und ich wollte unbedingt dabei sein. Ich hätte allen Ernstes meine linke Hand dafür gegeben. Ich habe Himmel und Erde in Bewegung gesetzt bis ich zum ersten Mal Castorf getroffen habe. Dies geschah in München, aber ich wusste nicht ob es tatsächlich in ein Engagement münden würde. Er rief mich aber zwei Wochen später an, er bräuchte „Material und dies und das…“ Da habe ich angefangen zu recherchieren, Aufnahmen zu übergeben, verschiedene Sachen zu kaufen.
Wie lief die Arbeit zu Beginn?
Dann kam Aleksandar Denić ganz schnell ins Spiel. Frank Castorf hatte vorher Bert Neumann, seinen Bühnenbildner mit dem er an der Volksbühne sehr viel gemacht hat, gefragt, aber dieser sagte, dass er das nicht bis März 2012 schaffen könnte (wir waren Mitte/Ende 2011). Und mit Denić, mit dem Frank gerade La Dame aux Camélias in Paris gemacht hatte, ist der Funke sofort übergesprungen. Denić hat gesagt, ich mache es! Davon hatte er schon immer geträumt – und dann auch noch in Bayreuth! Ganz schnell kamen ihm die ersten Gedanken, Baku vor allem und Öl! Wir haben das alles durchgespielt. Unsere erste Faszination war die des Feuers, der Explosion. Auf der Bauprobe wollten wir Feuer, Regen: alles sollte brennen, regnen, mit Öl auf der Bühne ringsherum, aber das war technisch sehr schwierig zu machen. Dann hatte Denić eine andere Idee, die mit Mount Rushmore: er hat im Internet ein Mount Rushmore mit anderen Köpfen gefunden. Wer kennt schon die Köpfe der Präsidenten, außer Lincoln? So kam die Idee, ein Mount Rushmore mit anderen Köpfen zu bauen und zwar die Köpfe von Marx, Lenin, Stalin, Mao, die jeder kennt. (Lacht.)
Dann hatten wir Probleme mit den Kostümen. Castorf wusste nicht genau wer singt und wir zeigten ihnen auch Bilder die zum Teil nicht sehr geglückt waren als wir sie ihnen zeigten. Wir wussten nicht genau wie das werden sollte. Und mit den Sängern konnten wir kaum arbeiten. Castorf hatte mit einem Team von vier Kostümbildern zusammengearbeitet, aber das funktionierte nicht. Dann aber kam Adriana Braga, sie hatte sofort eine Idee, ein Konzept.
Wir haben uns nicht so oft gesehen, vielleicht so fünf oder sechs Mal, aber es waren sehr intensive Treffen. Und wir stellten uns tausend Fragen „Vielleicht sollten wir nicht mit dem Rheingold beginnen? Vielleicht mit Götterdämmerung?“ Wir vermuteten auch Rheingold in dem Bühnenbild der jetzigen Walküre. Diese Sachen waren uns nicht klar und es hat relativ lang gedauert bis wir genaue Orientierungspunkte hatten und wussten wo welche Oper spielen sollte; klar war die Idee von Wall Street am Ende (diese Idee stammt von Wieland Wagner). Aber Rheingold war nicht so klar.
Castorf war es auch gewohnt elektroakustische Verstärkung zu haben. Castorf hat relativ viel Ton in seinem Theater, um in geschlossenen Innenräumen inszenieren zu können. Und ich wusste, dass es in Bayreuth nicht funktionieren könnte, aber ich hatte dennoch den Auftrag, die Festspielleitung zu fragen. Eva Wagner-Pasquier, die das Theater von Castorf nicht kannte, hatte Schwierigkeiten überhaupt zu verstehen wovon ich reden wollte!!
Es war auch etwas schwierig mit der Organisation der Probenzeit. Musiktheater funktioniert grundsätzlich anders als das Schauspieltheater und vor allem anders als die Volksbühne. Castorf probt normalerweise einmal am Tag vier Stunden in der Volksbühne, dann sind alle vollkommen erschöpft und können nicht mehr! Das ist sehr intensiv. Hier müssen wir zweimal am Tag proben und die erste Sitzung beginnt um 10 Uhr, was für Castorf undenkbar ist! Normalerweise beginnt er nie vor ca. 12 Uhr...! Das waren so die Schwierigkeiten bei denen ich dachte „hum, das wird lustig, wenn wir erst vor Ort sind!”. Dazu kamen noch logistische Probleme denn es ist nicht so leicht einen Aufenthalt von vier Monaten zu organisieren… Aber wir haben auch das gelöst!
Und wie haben die Sänger gearbeitet: sind sie Schauspieler? Wie haben sie auf die Regie reagiert?
Es gab unterschiedliche Schwierigkeiten. Vor allem haben wir uns mit Wagner auseinandergesetzt. Was schreibt Wagner über das Theater? Wie soll ein Sänger überhaupt geschaffen sein? Wagner sagt, dass ein Sänger ein Darsteller ist, er ist ein Schauspieler der auch singen kann. Da waren auch diese gewaltigen Partien!
Zunächst waren wir überrascht. Die ersten Proben waren mit Lance Ryan und Burkhardt Ulrich. Lance Ryan hatte diese völlige englische Coolness ; er machte alles mit einer gewissen Lockerheit und das war toll: „hum Kalaschnikow? Of course !“.
Burkhardt Ulrich war am Anfang sehr skeptisch. Ich glaube er hat es gehasst. Er wusste nicht was er im ersten Akt machen sollte. Aber nach vierzehn Tagen hatten wir uns schon ganz schön eingespielt und es hat funktioniert.
Wolfgang Koch war nie ein Problem, er machte alles ohne Probleme, er hatte auch kein Problem damit auf der Bühne zu rauchen so wie er wollte, das hat er sehr gut gemacht. Frank gab ihm nur mehr Zeit um die Partie perfekt musikalisch zu lernen da dies sein Rollendebüt war. Die erste Begegnung mit echten „Opernsängern“ war mit Anja Kampe und Johan Botha. Anja Kampe hat am Anfang auch Schwierigkeiten gemacht, sie hat es auch gar nicht gemocht, weil sie keine klassischen Anweisungen von Castorf bekommen hat. Wie waren ein bisschen ratlos, was wir mit Johan Botha machen sollten. Es gab zuerst einen kleinen Zusammenstoß mit Adriana Braga die ihm etwas anziehen wollte das er nicht tragen wollte... Das war nicht lösbar. Da mussten wir akzeptieren was er wollte...
Gegen Schluss der Proben haben wir uns Rheingold gekümmert, noch eine kleine Kostümfrage mit Okka von der Damerau gelöst, dann aber gab es plötzlich eine Dynamik die aber auch dadurch befördert wurde, dass wir hier vier Monate wie in einer Klosteratmosphäre lebten. Wir waren relativ häufig in den gleichen Lokalen zusammen, es entwickelten sich Freundschaften, wir konnten auch anders miteinander reden und Frank hatte einen direkten sowie privaten Zugang zu den Sängern. Und so lockerte sich das alles sehr auf.
Aber auch Martin Winkler, der 2013 neinen Alberich brachte den wir alle unglaublich liebten, weil er ohne Sicherheitsnetz auf der Bühne war, er machte ganz einfach. Und das hat eine ganz eigene Dynamik entwickelt und mit sich gebracht, so daß in Rheingold die Atmosphäre tatsächlich besonders gut war. Da konnte Frank Castorf am direktesten Druck ausüben. Wenn er nicht da ist fehlt dieser Druck, diese Gewalt die von ihm ausgeht, die gar nicht schlimm ist, aber die ich brauche. Und das ist für Sänger die es nicht gewohnt sind, sehr schwer. Er wird nie eine Anweisung geben wie, „du kommst von links und gehst rechts ab“ aber er schickt sie einfach direkt in den Kampf. Und diesen Kampf muss man sich immer noch stellen wollen...
Und wie war es mit Petrenko?
Mit Petrenko war es sehr, sehr gut. Weil Petrenko - das habe ich selten bei Dirigenten von diesem Format erlebt - war immer da, er saß auf jeder Probe, monatelang. Natürlich hatte er Verpflichtungen, da war er mal eins, zwei Tage abwesend. Aber sonst war er immer da. Er versuchte immer eine Lösung mit uns zu finden und Petrenko amüsierte sich auch sehr. Es war sehr praktisch, ihn mit uns zu haben. Wir waren dann auch sehr fasziniert zu sehen wie er dirigierte, in den Vorstellungen haben wir sehr oft den Dirigentenmonitor angeschaut, nur um ihm zuzuschauen. Er hat sich von uns entfernt als die Arbeit im Orchestergraben anfing. Da war er nicht mehr so oft bei uns, sondern kümmerte sich intensiv um das Orchester, hat viele Handschriften gelesen, auch Notizen von Felix Mottl, aber wir bekamen von ihm wirklich so ein Esprit mit und das war fantastisch.
In fünf Jahren gab es viele Besetzungsänderungen. Wie hat es z. B. mit Alberich geklappt?
Wir hatten im zweiten Jahr Martin Winkler auch hier; er war da bis zu den Orchesterproben. Dann wurde er plötzlich gefeuert und Oleg Brijak ist angekommen. Wir hatten genau zwei Tage um ihm die Inszenierung zu erklären. Und wir haben sofort mit ihm zu arbeiten begonnen. Er versuchte wirklich alles zu machen wie Martin Winkler, er war ein bisschen älter, auch ein wenig dicker, aber er hat sich völlig hineingeworfen. Er war so offen, er versuchte so sehr den Ansprüchen gerecht zu werden, er versuchte alles richtig zu machen und alles so wie Frank es von ihm wollte. Mit Dohmen war es danach ganz anders. Vom Anfang an hat er alles hier gehasst, (seine Einstellung hat sich 2017 völlig verändert). Wir wussten am Anfang nicht was mit ihm machen sollten, wie wir reagieren sollten. Er machte nichts, wir konnten ihn nicht in dieser Inszenierung integrieren, er war ganz einfach überhaupt nicht vorhanden.
Dieses Jahr war es besser und er wollte sich mehr einbringen und hat auch mit mehr Vergnügen gearbeitet. Frank Castorf hat sich mit ihm unterhalten und hat ihm gesagt: „Du magst diese Inszenierung nicht? Gut, dann hau alles kaputt! Sei aggressiv! Mach’ wie du dich fühlst! Sei der alte Sack der du bist!“
Er hat einfach auf ein ganz anderes Niveau gespielt dieses Jahr. Damit können wir leben!
Welche Auswirkungen hat der Wechsel des Dirigenten gehabt?
Diese Inszenierung war schon drei Jahre alt, sie hatte ihren eigenen Rhythmus, einen Fluss, ein Timing, was gerade bei bei dieser Inszenierung relativ wichtig ist. Und ... alles wackelte sofort.
Manche Stellen wurden plötzlich sehr langsam, gerade im Rheingold die Szene mit den Rheintöchtern; andere dagegen wurden plötzlich unglaublich schnell, wie der erste Akt der Walküre. Petrenko hat die Partitur so ausgelotet, es gab Höhepunkte, Eckpunkte, an die man sich als Orientierungspunkte halten konnte. Da war nicht mehr diese Verfügbarkeit und es schlug ein anderer Wind aus dem Graben. Janowski wollte einfach nicht wissen was die Leute auf der Bühne machten. Aus vielerlei Gründen wollte Castorf mit ihm reden, die Stellung der Sänger, was wäre besser oder schöner…, aber nein, er redete nicht, er war nur grumpy und gossip nur hier und da. Und am Ende macht sich das bemerkbar.
Sprechen wir jetzt von Ihrer Arbeit mit Castorf: welche Freiheiten, welche Grenzen hatten Sie?
Das ist sehr schwierig: es ist wie die Freiheit in einer stalinistischen Diktatur! Ich habe jede Freiheit Dinge zu erfinden, anzubieten, die im Rahmen dieser Inszenierung passen, möglich sind. Er hat natürlich das letzte Wort, er sagt: „das geht oder das geht nicht...das ist zu banal“, ab da habe ich jegliche Freiheit. Auf der anderen Seite sitzt er mir ständig im Rücken und sagt „Das ist blöd, das ist furchtbar, du musst mehr Rhythmus geben“. Das verunsichert mich sehr. Er lobt sehr selten. Dafür muss etwas schon außerordentlich gut sein. Stattdessen höre ich öfter: „Grauenvoll...alles schlecht...das ist genau das Theater das ich nicht sehen möchte“...aber er sagt nicht konkret wie es gehen sollte...ein anderer Rhythmus...eine größere Beschleunigung... nicht zu viel im Rhythmus der Sänger gehen, sondern dagegen...
Zum Beispiel, brauche ich nach dem ersten Akt Siegfried immer dringend eine Dusche, weil ich so viel Energie verbrauche, aber bei der Generalprobe war er nicht zufrieden, weil es nicht genug davon gab!Aber er sagt auch sehr gute und richtige Sachen: „Nie unkonkret spielen! Immer etwas Konkretes machen. Du musst immer etwas zu tun haben, richtig anfassen, alles was irgendwie auf der Bühne passiert muss sehr konkret sein!“
Was war die schwierigste Szene für Sie?
Von der Regie hergesehen oder für mich persönlich?
Beides
Das Rheingold fließt tatsächlich gut. Es ist viel los, es ist zwar überladen, aber nicht so schwierig. Götterdämmerung II. Akt ist von der Regie her für mich das Schwierigste. Das ist sehr komplex zu lösen.Für mich persönlich ist es Siegfried I. Akt, der ist sehr exponiert und ich bin sehr beschäftigt. Da kann sehr viel schiefgehen. Ich weiß nicht immer wie ich die Situation retten soll oder kann, sollte etwas schiefgehen. Rheingold war komplex, weil die Proben nur 12 Tage gedauert haben, die Bereitschaft der Sänger war aber so hoch, sie hatten so viel zu tun, das wurde immer dichter und als Castorf die Kameras reingeschickt hat wurde es nochmal dichter.
Welche Beziehung zu Wagner haben Sie persönlich? Hat die Arbeit hier in Bayreuth etwas daran geändert?
Mein erster Kontakt mit Wagner war die Aufnahme von Tannhäuser mit Sawallisch und Anja Silja, dann kam der Ring von Karl Böhm (mit Windgassen). Ich war fasziniert von allem was hier in Bayreuth geschah und wollte unbedingt hierherkommen. Als ich mit Gergiev und Gottfried Pilz für den Ring in Sankt Petersburg gearbeitet habe fand ich das hoch interessant in seiner ganzen Komplexität. Sich erneut mit Wagner zu beschäftigen, mit diesem Ring, der in seinem Ursprung von Udo Bermbach ausgeht („nur hier macht die Politik die Welt kaputt!“), sich nochmal tief mit Wagner zu beschäftigen, hier, an diesem Ort, in dieser Landschaft, das verstärkt nochmal die Eindrücke. Meine Beziehung zum Ort ist tiefer geworden und mein Verständnis von Wagner ist weniger intellektuell und dafür emotionaler geworden.
Jetzt wollen wir von Patric Seibert den Schauspieler sprechen.
Wer sind Sie in dieser Produktion?
(lacht)
War das am Anfang an schon beschlossen, dass Sie auf der Bühne den Schauspieler agieren würden?
Nein, überhaupt nicht. Die Frage „Wer bin ich als Schauspieler?“ ist tatsächlich damit verknüpft wer ich als Person bin, vielleicht hat die Suche hier in dem Ring, sehr viel mit der Suche nach mir selber als Person zu tun und ist auch mit meiner Beziehung zu Frank Castorf verbunden.
Der Anfang war tatsächlich der Bär im Siegfried, weil wir mit Siegfried I,1 begonnen haben. Und es war durchaus so, dass ich schon öfter auf der Bühne stand. Ich weiß nicht warum Castorf diese Idee gehabt hat, mich auf die Bühne zu schicken. Ich glaube, er brauchte selber auch jemand den er anschreien konnte, den er so behandeln konnte wie er normalerweise Volksbühnen- Schauspieler behandelt, das konnte er mit den Sängern nicht. Um sich ein bisschen eine Stellung zu verschaffen.
Frank kennt meinen Hintergrund, weiß aus welcher Familie ich komme, was ich so bin...ich habe auch ein wenig einen jüdischen Hintergrund. Frank fand es sehr schön, als wir abends davon sprachen, wenn dieser Siegfried eine Kreatur mitbringt, vielleicht mit einer kleinen, runden Brille und den er wirklich schlecht behandelt. Und diese Kreatur stöbert trotzdem auch Bücher auf...Was ist das für ein Mensch? Was hat er für eine Geschichte? Warum befreit er sich nicht aus dem Seil? Er liest die ganze Zeit auch! Er wurde wie eine Art Lucky aus Warten auf Godot. Und es funktionierte immer gut, wenn er sah, daß es nötig war, Fragen zu stellen: ach, es ist noch jemand anderes da! Der Ring handelt von der ganzen Welt, aber die Handlung beschränkt sich auf vier bis fünf Personen; nur wo sind die anderen alle? Und da ist doch immerhin jemand!...Dem ist zwar alles verboten, aber er lebt, er beschäftigt sich...
Und ich glaube er mochte was ich machte, weil ich kein wirklicher Schauspieler bin und weil ich ihm auch viel sagen konnte. Ich habe viele seiner älteren Inszenierungen gesehen: ich konnte sagen „Ah ja, es ist wie...in Die Schmutzigen Hände 1 ...Ich verstand einfach seine Sprache. Irgendwie sind wir beide doch zwei DDR-Bürger, die ähnliche Bücher gelesen ähnliche Filme gesehen haben und die auf der gleichen Linie denken... So z.B in Siegfried I, wenn ich mich schwarz angemalt habe, - es gibt ein deutsches Sprichwort „ich mach‘ mich zu einem Neger“ und Castorf dachte gleich daran, „ja es ist ähnlich wie die Stalin-Prozesse“, wo die Angeklagten sagten „Ja ich bin schuld, ich war Spion, ich muss in den Goulag, bitte verhaftet mich sofort!“. Diese Art von Masochismus erinnert an das Buch von Wolfgang Leonhard, „Die Revolution entlässt Ihre Kinder“ wo er beschreibt wie seine Mutter verhaftet, ihr Spionage vorgeworfen wurde und sie nach Ljubjanka geschickt wurde. Das war idiotisch aber er dachte sofort: „Ja das muss sein! Das ist richtig, dass Stalin meine Mutter ins Gefängnis geworfen hat“.... So ähnlich dachten wir sofort und simultan! Das hat ihm gut gefallen.
Gibt es Raum für Improvisation während der Vorstellung?
Dieser Raum ist immer da. Das ist ein bisschen kompliziert mit den Sängern, die sehr darauf achten, dass nur das gespielt wird was auch geprobt worden ist. Manchmal entwickelt sich aber ein Gedanken, nach 4-5 Wiederholungen, wo man merkt, ah, „es wäre viel intelligenter wenn ich es jetzt anders spiele“...Es gibt Sänger die damit gar kein Problem haben und andere die es absolut hassen, die sofort nach dem Akt über mich herfallen, mich anschreien und fragen wollen, warum es so schiefgelaufen ist…
Und es ist auch seltsam, aber Castorf langweilt sich sehr schnell in seinen eigenen Inszenierungen, wenn alles gut läuft, das mag er nicht. Da bekomme ich Druck von ihm: „Geh da raus! Mach‘ etwas Neues! Erfinde etwas!“
Sie sind ein Bär, ein Kellner, ein Postbeamte, Sie sind viele Personen in diesem ganzen Ring?
Ich glaube, dass dieser Vergleich mit der Figur von Lucky Sinn hat. Die Figur ist ein bisschen rätselhaft. Sie ist auch in ihrer ethisch-moralischen Ausrichtung nicht so sehr gefestigt. Er ist ein Opportunist der versucht unter allen Umständen dabei zu sein. Er versucht am Leben zu bleiben. In dieser Welt in der ihm nichts gelingt, was er anfässt. Das ist auch das Elend meiner eigenen Präsenz auf der Bühne: ich kann nicht in dieser Oper eingreifen, ich versuche aber irgendwie durchzukommen. Castorf meinte, letzten Endes sei dies das Proletariat. Die Figur, die von den Göttern ausgebeutet wird. Ich bin der, der an vielen Sachen teilzunehmen glaubt und der, der immer geht. Ich bin oft Opfer, aber nicht nur: z.B in Siegfried III. Akt , wo ich Überwachungskameras bediene. Ich versuche soweit ich kann in die Weltgeschichte einzugreifen.
Am Ende aber sind Sie tot, sowie auch am Anfang der Walküre?
In der Walküre wollte Castorf keine Puppe. Man weiß nicht ob diese Figur lebendig ist oder nicht. Opfer ja! Aber von wem? Vom Krieg? Von welcher Seite? Von Siegmund? Von Hunding?
Sie sind oft auf der Bühne Schauspieler und Regieassistent zugleich?
Ja in der Walküre II, wo es wichtig ist, daß die Statisten wissen was passieren muss, ja auch im Rheingold, als Oleg Brijak gespielt hat, wo ich immer hinter der Tür mit dem Regiebuch stand, um ihm zu sagen was er machen und wohin er gehen sollte, um zu vermeiden, dass etwas schiefgeht. Manchmal auch während wichtigen Proben, wo Castorf vorne auf der Bühne saß, die Probe brutal unterbrochen hat und die Seiten gewechselt haben wollte. Da bin ich sofort aus der Rolle herausgestiegen und bin der Regieassistent geworden, um den Ablauf richtig neu zu regeln.
Haben Sie andere Projekte mit Castorf?
Ja, er wollte mit mir bei Aus einem Totenhaus von Leoš Janáček in der Bayerischen Staatsoper arbeiten, aber es hat terminlich nicht gepasst, aber jetzt sollen wir zusammen ein Projekt für die Salzburger Festspiele machen.
Ich muss auch sagen: nachdem wir viereinhalb Monate Ring zusammen in Bayreuth gearbeitet haben, haben wir danach in München von Louis Ferdinand Céline, Reise ans Ende der Nacht gemeinsam produziert. Es ist nicht gut über ein halbes Jahr zusammen zu arbeiten. Das ergibt eine Art Ehe, eine richtige Symbiose und das ist nicht gut. Man braucht eine Distanz, nur mit Castorf zusammenzuarbeiten wäre zu hart.
Einige Frage zum Inhalt des Rings jetzt.
Warum ist der Nazismus relativ abwesend von diesem Ring?
Wahrscheinlich hat man darauf gewartet am Ende in der Götterdämmerung die Reichskanzlei zu sehen! Aber seit dem II. Weltkrieg ist dieses Thema ziemlich abgearbeitet. Die ganze Wagner-Deutung hat sich nach dem Krieg damit beschäftigt, manchmal war es auch sehr banal. Wagner war kein Nazi (man braucht nur seine Lebensdaten zu betrachten). Wagner war auch kein Verfechter der Endlösung. Er hatte einige private Probleme mit den Juden aber es war der Rest seiner Familie die ekelhafte Positionen bezogen hat.
Wie zeigen diese Geschichte von Baku, als die Nazis das Öl zurückerobern wollten und auch die Trennung Deutschlands nach dem Krieg ist unmittelbar mit den Nazis verknüpft, und was sie gemacht haben. Von daher war es ziemlich wichtig die politischen Mechanismen zu zeigen.
Zusätzlich war es natürlich für uns für unsere eigene Lebenserfahrung, nicht unwichtig die Erfahrung mit dem Marxismus-Leninismus-Stalinismus zu verarbeiten und zeigen: es gibt da eine Art dialektisches Verhältnis. Wir haben auch 50 Jahre unter dem Marxismus gelebt und unser Alltagsleben war nicht nur von den Nazis bestimmt...Es ist auch einer Frage der Anerkennung.
Wir haben den Eindruck, dass Sie dieses Jahr mehr an den Details gearbeitet haben.
Wir hatten dieses Jahr ein bisschen mehr Zeit weil es nicht so viele Veränderungen in der Besetzung gab. Wir konnten das machen, was wir im zweiten Jahr machen wollten: intensiver an den Details arbeiten. Wir hatten auch die Möglichkeit uns zu unterhalten, z. B. mit Catherine Foster über die Karten: was bedeutet für dich die Karten usw...2
Wir haben die Nibelheimszene in Rheingold immer ziemlich kompliziert gefunden. Alberich und Mime schon gefangen genommen am Anfang, dann befreit, dann wiederholt man die Szene als ob man einen Film drehen wollte...
Ja, es ist genau das. So ist es auch gedacht. Wir dachten, dass diese Sechziger, Siebziger, Achtziger Jahre die Zeit des Films sind, wo Bilder plötzlich mächtiger als die Realität sind: was man in Fernsehen sieht, das ist die Wirklichkeit und das hat eine Beweiskraft. Deshalb haben wir Rheingold mit vielen Bildern und Filmen überfrachtet. Wer die Macht über die Bilder hat, hat die Macht um die Geschichte zu interpretieren. So werden die Menschen oder die Nachrichten manipulierbar . Und es ist eine Inszenierung von Wotan, was in Nibelheim passiert, wo Wotan die Macht über die Kameras hat, über die Bilder sowie über die Interpretation darüber wie die Geschichte verlaufen ist.
Viele Leser wollen jetzt endlich wissen: warum Krokodile im Siegfried?
(Lacht).
Castorf hat zuerst gedacht an eine satirische Erzählung von Fjodor Dostojewski 3, die er gelesen hat als er Der Spieler inszenierte und auch an Karlchen das Krokodil! Dann hat Frank sich überlegt, daß Siegfried als Superheld, wie James Bond, erscheinen sollte. „Ein herrliches Gewässer wogt vor mir ˝, also überhaupt kein Problem mit einer Reihe von Krokodilen! Und auch natürlich war da diese alte Geschichte am Alexanderplatz: Castorf ist in Berlin aufgewachsen und es war verboten in diesen Höhlen da hinunterzugehen. Man erzählte den Kindern, dass es Krokodilen aus der Zeit des Krieges da unten gab.
Wir standen ratlos vor dieser sehr langen Szene Siegfried/Brünnhilde mit dieser überirdisch schönen Musik, die alle lieben. Und Petrenko hat uns gesagt: „ja, aber vertraut ihr nicht! Fallt nicht auf diese Musik rein. Dieser Musik muss man etwas entgegensetzen; auch Wagner sagte selbst: die Musik ist so überirdisch und so schön, das kann nicht wahr sein. Es geht auf dieser Welt nicht".
Das hat uns darin bestätigt dem etwas entgegenzusetzen. Castorf dachte, dass sieben Krokodilen etwas Perverses hätten, das ist wirklich ekelhaft!
Dazu gab es am Anfang ein Problem zwischen Lance Ryan und Catherine Foster. Wir hatten das bei den ersten Proben gespürt. Und diese Distanz, diese Kühle zwischen ihnen wollten wir nutzen und verwenden. Brünnhilde ist eine Frau die Siegfried liebt und unbedingt haben möchte. Sie ist dafür von Walküre zur normalen Frau geworden. Siegfried ist zuerst sehr neugierig, aber als er sieht, dass sie ihn heiraten will macht er sich auf und davon. Und die ganze Familie von Krokodilen ist genau das was Brünnhilde nie haben wird.
Und was halten Sie von den Reaktionen des Publikums?
Es gibt ganz unterschiedliche Reaktionen. Vorgestern 4 waren wir sehr überrascht, dass die Reaktion des Publikums sehr positiv war. Normalerweise waren Rheingold und Walküre gut akzeptiert, aber nicht Siegfried.
Interessanter waren die Reaktionen nach der Götterdämmerung im ersten Jahr. Die Leute waren sehr betroffen. Das war eine herrliche Reaktion, nicht schlecht. Es ist auch selten, dass man ein solches Publikum treffen kann. In Berlin wissen die Leute was von Castorf zu erwarten ist. Leute haben mir geschrieben, ich habe sehr negative Briefe bekommen („Es war das ekelhafteste was ist je gesehen habe“), aber andererseits hat jemand in Wien auch ein Buch über „Siegfrieds Kalaschnikow oder der missachtete Wagner“ geschrieben 5 und Siehaben selbst ein Lexikon gemacht. Und ich finde das herrlich, dass eine Inszenierung so etwas anstoßen kann: es ist etwas passiert!
References
1. | ↑ | Jean-Paul Sartre |
2. | ↑ | s. Lexikon |
3. | ↑ | s.Lexikon |
4. | ↑ | am 1.August, Premiere von Siegfried |
5. | ↑ | von Heinz Krecji, Manzsche Verlags- und Universitätsbuchhandlung Wien 2013 |
© Andreas Harbach / Nordbayerischer Kurier
© Marie Liebig